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Wer hätte gedacht, dass in unserer Zeit noch eine Arcade spektakulär untergehen könnte? Dass unwiederbringliches Kulturgut zerstört wird? Teils mutwillig zerstört wird? Ein Bericht von einem von vornherein zum Scheitern verurteilten Rettungsversuch. Tut mir leid, wenn mein sonst üblicher Sarkasmus und meine Ironie hierbei komplett auf der Strecke bleibt. Ich bin immer noch fassungslos, wütend und traurig.
Ein Wort zum Kulturgut
Ja, ich verstehe, dass viele Leute Arcade-Automaten für alten Plunder halten. Tatsächlich sind aber die ersten Videospiele und die ersten Automaten technische Vorreiter der „Computerisierung“ unserer Gesellschaft gewesen. Sie erzählen viel über die rasante Entwicklung in der Technik und im Design. Flipper und Videospiele stellten immer die Speerspitze der Technologie dar. Mechanische Flipper übertrafen in ihrer Komplexität locker sämtliche Addiermaschinen in den damaligen Büros. Der Technologietransfer fand immer vom Spielsektor in den wirtschaftlichen Sektor statt. „Weltraumtechnik“, die unser alltägliches Leben leichter machte, ist nur ein Mythos. Spiele bereicherten immer unser Leben. Auf die eine, wie auf die andere Art.
Dies ist auch heute noch so. Spielkonsolen bekamen die ersten richtigen Multicore Prozessoren und Grafikchips, als es auf teuren Workstations und Servern zwei, maximal vier CPUs in separaten Gehäusen und Sockeln gab. Hochgezüchtete Gamer-Grafikkarten mit Physikbeschleunigung und hunderten von Recheneinheiten, die für den Massenmarkt entwickelt wurden, machten es erst möglich, dass deren bezahlbare und energieeffiziente Rechenpower auch ernsthafte Anwendungen beschleunigte.
Nur wegen aufwendiger Spiele haben aktuelle Smartphones überhaupt leistungsstarke Grafikprozessoren und CPUs mit bis zu acht Kernen und 64 Bit. Diese Geräte haben eine Rechenleistung, die die der PCs von vor fünf Jahren entspricht – oder sie übertrifft. Dabei sind sie stromsparend ausgelegt, um die Akkulaufzeit zu verlängern und die Wärmeentwicklung zu begrenzen.
Die Ursprünge dieser Entwicklungen gilt es zu bewahren. Viele alte Spiele werfen ein interessantes Schlaglicht auf die damaligen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Sie sind keine stummen Zeugen. Man kann sie bespielen, sie sind lebendig. Und sie „funktionieren“ auch heute noch. Ein gutes Spiel benötigt keine bombastische Grafik, keinen DLC und keine 4k-Auflösung. Jeder, der selbst die kleinsten Kinder begeistert an diesen „alten“ Automaten hat spielen sehen, wird verstehen, was ich meine. Ich empfehle dazu einen Besuch im For-Amusement-Only in Seligenstadt, der jeden ersten Samstag im Monat geöffnet hat.
Die Nachricht verbreitet sich in „der Szene“
„Moin Hessi, wie gehts dir aktuell?“ – so eine PM über Facebook ist gewöhnlich nur die Ouvertüre für irgendetwas, was irgendwer von mir will. Und richtig: „In Worms gibts eine Arcade-Sammlung zum Plündern, sofern du Zeit und Lust und die nötige Gesundheit hast.“, schrieb Ariane vom For Amusement Only e. V. weiter. Das war korrekt, denn ich laborierte an einer mutierten Kindergartenvariante der gemeinen Rüsselpest. Jeder, der Kinder hat, kennt das: Während der Kindergartenzeit schleppen die Kleinen grippale Infekte mit nach Hause, die Erwachsene für Tage in orientierungslose Zombies verwandeln können. So war das auch bei mir.
Aber natürlich vergaß ich durch die paar Zeilen urplötzlich meine stechenden Kopf- und Nackenschmerzen sowie die verstopften Nebenhöhlen. Eine Arcade? Zum Plündern? Ein Blick auf den Kalender bestätigte es mir „Februar 2015″. Nicht Februar 1990! Hahaha! Nein. Videospiele sind schon vor Jahren vom Kulturrat als Kulturgut anerkannt worden. Da kann es nicht sein, dass dutzende Arcade-Automaten irgendwo zur Plünderung freigegeben sein können.
Ein Abenteuer winkte! Eine Chance, die sich wohl in der heutigen Zeit nur einmal im Leben ergibt. Ich baute die hinteren fünf Sitze aus meinem Auto aus und hing den Hänger an den Zigeunerhaken. Nach Feierabend kam Ariane direkt an den Bahnhof in Seligenstadt, in der ich sie bereits ungeduldig erwartete.
Hintergrund
War die ganze Sache ein schlechter Scherz?
Leider nicht. Der Eigentümer des Geländes, auf dem sich „Vossen’s Arcade“, die größte Automatensammlung Deutschlands, befand, öffnete tatsächlich die Türen und überließ das noch vorhandene Inventar allen, die sich dafür interessierten. „Was weg ist, muss ich nicht in die Presse schmeißen.“ waren seine Worte zu Ariane, die sich die unglaubliche Geschichte, die durch die diversen Arcade- und Retro-Foren ging, bestätigen ließ. Und wir sollten uns beeilen, denn in den nächsten Tagen würden die Abrissbagger anrücken, gab uns der Bauunternehmer noch mit auf den Weg. Damit hatten wir unseren Kaperbrief in der Tasche.
Tja, „alle, die sich für das Inventar interessieren“ – das war zuerst die „Kupfermafia“, die sämtliche Röhrenmonitore zerschlug, um an die Kupferwicklungen der Ablenkeinheiten zu kommen. In so einer alten Röhre herrscht ein Vakuum. Zerschlägt man die Röhre von vorne, so gibt es eine heftige Implosion, die die Glassplitter in alle Richtungen fliegen lässt. Entsprechend sahen die Automaten und der Boden auch aus: Millionen teils kleinste Glassplitter machten die Bergung der Geräte nicht ungefährlich. Intelligent wäre es gewesen, wenn man die Automaten ganz lässt und bei Ebay versteigert. Da hätten schon zwei Automaten den Erlös von allen Kupferwicklungen erzielt. Soweit zur Intelligenz.
Auch ein „Hausmeisterservice“ tat sich an den Automaten gütlich und riss alles Metall aus den Automaten. Diese bestehen zum größten Teil aus Sperrholz – da kann man sich den Grad der Zerstörung ausmalen. Ariane traf diese Leute vor Ort an und fragte, was sie dort tun würden. Die Herrschaften meinten, dass es für eine Tonne Metall stolze 150,- EUR geben würde. Wow! Als sie ihnen dann erklärte, dass ein funktionstüchtiges Autorennen zwischen 500,- und 1.000,- EUR wert wäre, entgleisten denen die Gesichtszüge. Ebenfalls ein anschauliches Beispiel für überragende Intelligenz und die Begrenztheit von Tellerrändern.
Nachts wüteten wohl noch Jugendliche auf dem Areal und zerstörten mutwillig viele der Automaten. Aber auch Leute, die genau wussten, dass es sich bei vielen Automaten um unwiederbringliches Kulturgut handelt, zerstörten die Geräte, um an Ersatzteile heranzukommen oder um sich „Dekostücke“ zu sichern.
Wie kam es aber überhaupt zu diesen Akten der Zerstörung?
Um die Zusammenfassung der ganzen Geschichte in Arianes Worte zu fassen:
„Lange Rede kurzer Sinn … Sammler lagert 500+ Automaten ein, Vermieter will saftige Mietpreiserhöhung, Sammler klagt dagegen — Gericht verbietet Sammler Zugang zur Halle bis Gerichtsverfahren zu Ende, das geht rund 3 Jahre lang hin und her — Es wird eingebrochen und die Röhren getötet (für das Kupfer in der Spule) — Sammler schließt mit der Sache (für sich) ab — Der Vermieter gerät selbst in finanzielle Schieflage — Das ganze Gelände wird zwangsversteigert an einen Baulöwen — Der Baulöwe will das ganze Areal platt machen (weil teilweise verfallen) und gibt den „Schrott“ in der Halle zum plündern frei — Die Halle steht nun ~4 Wochen offen für jeden, die Kupfermafia und die Altmetallhändler rupfen wahllos alles raus, was sie glauben, zu Geld machen zu können… Die Entrümpler sind auch schon zugange — Die „Szene“ bekommt Wind davon und fängt an, die „Reste“ nach Ersatzteilen zu durchforsten — In der nächsten, spätestens übernächsten Woche wird das Ding abgerissen.“
Für einen großen Automatenaufsteller ist das vielleicht kein so herber Verlust wie für kleinere Vereine – dem For-Amusement-Only (FAO) zum Beispiel. Diese haben sich dem Erhalt solcher Geräte verschrieben. Kein Wunder, dass nach der Rückversicherung mit dem jetzigen Eigentümer auf große Kaperfahrt gegangen wurde.
Erste Sondierungen am Sonntag, mit kleineren Bergungen, durch Reiner und Ariane vom FAO dienten der Bestandsaufnahme und Planung, denn schließlich stehen auch dem FAO nur 1.000qm Fläche zur Verfügung. Wer den FAO kennt, der weiß, dass der eigentlich keine neuen Exponate aufnehmen kann. Da musste schweren Herzens auf die Masse der Automaten verzichtet werden. Bereits Sonntag Abend befanden sich ca. 30 Personen in den Hallen, die nach Ersatzteilen und kompletten Geräten suchten.
Das ließ nichts Gutes ahnen, es war Eile geboten, aber erst am Mittwoch konnte ein Lkw gemietet werden. War bis dahin aber überhaupt noch etwas brauchbares vorhanden? Also mussten wir Dienstag Abend zu einer weiteren Sondierung und Bergung aufbrechen.
Gesprengte Vorstellungskraft
Was wir in den Hallen tatsächlich finden sollten, überstieg bei Weitem meine Vorstellungskraft. Ich vermutete vielleicht 10 oder zwanzig Geräte und erwartete eher kleinere Räume …
Auf dem riesigen Gelände von 31.000qm befinden sich neben vielen verlassenen und halbverfallenen Werkshallen auch noch Wohnhäuser. Von befestigten Wegen ist nichts mehr zu sehen. Etwas, das wie ein großer Swimmingpool aussah, konnten wir im Licht der Scheinwerfer noch ausmachen. Überall lag Schutt im Weg, der schlammige Boden wies zahllose teils sehr tiefe Absenkungen aus. Scheinbar ist der Untergrund nicht der stabilste. Ich hoffte, mir keine rostigen Nägel, Scherben oder Schrauben in die neuen Winterreifen zu fahren. An der ehemaligen Arcade angekommen, begrüßte uns ein herausgerissener oranger Sitz aus einem Rennspiel. Neben einem der Eingänge lag ein Gauntlet Dark Legacy auf dem Kopf im Schutt. Der Nieselregen hörte langsam auf.
Unglaubliche Bilder!
(Große und eben auch kleinere, verfallene Hallen)
(Vossens Arcade)
(Eine ehemalige Holzfabrik, soweit ich weiß)
(Mit Schutt übersätes Gelände)
(Ein kleiner Eindruck davon, wie dunkel es wirklich war)
Aber auch zu Fuß war das Gelände alles andere als ungefährlich. Ein aus dem Boden ragender Stumpf eines dünnen Baumes war angespitzt(!) worden. Eine Zutat, wie aus einem Horrorfilm. Nur wenige Meter daneben gab es offene Schächte. Ein falscher Schritt und …
(Vlad wäre begeistert gewesen)
(Down, please!)
(Einer der Nebeneingänge)
(Gauntlet Dark Legacy achtlos umgekippt)
(Drei-Spieler-Automat Off Road direkt am Eingang. Sogar noch einigermaßen reparabel)
(Dino/Jurassic-Park-Automat)
(Mutwillig zerstörtes Kulturgut)
(Die erste Halle, die wir erkundeten)
(Undichte Hallendächer, die Zwischendecken teils herabgefallen)
(Überall Zerstörung und Verfall!)
(Ein trauriger Tisch mit einem Pong-Klon)
(„Vandalismus“ – anders ist es nicht zu bezeichnen)
(Monitore von vorne(!) eingeschlagen! Wer an seinem Leben hängt, schlägt den Bildröhrenhals ab, um die Röhre zu evakuieren. Am Hals sitzt ja ebenfalls die Kupferspule. Wie dumm muss man sein?)
(Wahnsinn!)
(Watch your steps!)
So schlimm das mit den Monitoren auch ist, wenigstens kommt man momentan noch günstig bzw. geschenkt an alte 51cm-Fernseher ran. Ariane schraubte aus den Geräten aber die Minitorchassis heraus, denn die sind wichtig, damit man einen Automaten wieder originalgetreu restaurieren kann. Glücklicherweise fanden weder die Rohstoffsammler noch die „Enthusiasten“ diese Platinen interessant.
(Ein Le Mans Autorennen)
(Wie strutzedumm kann ein Mensch sein, um auf solche Ideen zu kommen?)
Der Le Mans war wunderbar erhalten. Klar, der Monitor war zerschlagen und das Lenkrad hatte Macken, aber die GfK-Teile waren alle noch tipptopp. Als Ariane am nächsten Tag mit den „Frankfurter Jungs“ und einem 7,5-Tonner eintraf, hatte der „Hausmeisterservice“ das wunderbare und wertvolle Gerät bereits völlig zerschlagen, um an das weitaus weniger wertvolle Metall heranzukommen. Ein Jammer. Oder mal Klartext: Man kann gar nicht so viel essen, wie man kotzen möchte. Sorry, ist aber so.
(Chaos)
(Die Implosion riss die Leuchtschicht mittig vom Schirm)
Was für ein Wahnsinn für die paar Euro! Überall lagen Scherben herum, man musste auf jeden seiner Schritte achten. Schnitte sollten tunlichst vermieden werden, denn die Splitter waren teils von der Front, also mit einer Leuchtschicht bedampft, die u. a. aus Arsen, Blei, Cadmium, Nickel und Quecksilber besteht. Diese Schicht war wie Puder, man kann sie relativ leicht abreiben. Das Zeug muss bei den Implosionen von der „Kupfermafia“ auch eingeatmet worden sein. Selbst schuld.
(„Something has survived“ – nicht wirklich. Ein zerstörter Dino-Park-Automat)
(Ein Indy 500 – wortwörtlich am Boden zerstört)
(zertretener Rave Racer – wer macht so etwas?)
(Testarossa, Radikal Bikers …)
(Hinten ein originaler Atari Pole Position!)
(Sinnlose Zerstörung)
(Der Name ist Programm, der Phoenix wurde gerettet)
(Werbeleuchttafel mit Michael Schumacher – traurig passend)
(In anderen Hallen noch mehr Schutt und Chaos)
(Man konnte leicht den Überblick verlieren)
(Zerstörte Zeitzeugen)
(Alte Zeitung im Schutt: „Investieren“? Zu spät!)
(Demontierte Toiletten? Ernsthaft?)
(Ein kleiner Abglanz der einstigen Größe, genauer gesagt der Großartigkeit der Sammlung)
(Unglaublich: Die Scheibe ist heil geblieben!)
(Auf dem Hänger)
(Im FAO in Sicherheit)
Hat sich die Fahrt gelohnt? Ja. Punkt. Auch, wenn wir nicht viel bergen konnten. Oder besser gesagt: kaum etwas von den großen Geräten. Die Wege waren einfach zu verdreckt, um im Dunkeln die schweren Cabs mit der Sackkarre zu transportieren und dabei noch mit Taschenlampen zu hantieren. Die Verletzungsgefahr war einfach zu groß. So blieb es für mich bei einem Laserdisc-Player und einer Betamax-Kassette (ich arbeite gerade an einem Artikel über digitale Demenz).
Ariane war aber fleißig, während ich durch das Chaos stolperte und Bilder machte. Sie konnte sehr viele Monitorchassis bergen. Zu guter Letzt schmissen wir noch einen King-Fu-Automaten auf den Hänger, der direkt an einem Ausgang stand und einen guten Eindruck machte. Am nächsten Tag wollte Ariane mit mehr Manpower und besserer Ausrüstung am Tage mit einem 7,5-Tonner anrücken. Damit hat sie wieder einen Tag kostbaren Urlaub für den Verein geopfert.
Schaut Euch einfach die Bilder in Ruhe an. Und immer daran denken, dass die nicht aus den frühen 90er-Jahren stammen, sondern aus dem Jahr 2015. Mal abgesehen vom monetären Wert, der kulturgeschichtliche Wert, der hier zerstört wurde, ist einfach nur … unglaublich!
Hallo Hessi,
danke für diesen Beitrag. Spannende Geschichte! Wie ging es denn weiter? Du schreibst Ariane wollte mit einem 7,5 t wiederkommen. Weißt du was aus den anderen Geräten geworden ist? Gab es noch ein paar erfolgreiche Restaurationen? Liebe Grüße
Hallo Ben,
Ariane hatte noch einige Geräte bergen können. Dabei traf sie auch auf (den Vorurteilen zum Trotz) Plünderer einer deutschen Firma an, die gerade einen Fahrautomaten zerlegten, um Rohstoffe für ein paar Euronen zu extrahieren. Sie steckte denen, dass der Automat, bevor sie ihn zerstörten, für ca. 2.500 Euro auf Ebay gehandelt werden würde. Die Gesichter sollen entgleist sein.
Wenn Du näheres wissen willst, musst Du beim For-Amusement-Only in Seligenstadt nachfragen. Ich bin mir aber sicher, dass die geretteten Automaten repariert werden konnten.
Gruß
Michael
P.S.: Schön, dass Du mich wieder auf den Artikel aufmerksam gemacht hast, denn durch den Umzug und eine Datenbank-Panne wurden die Bilder völlig falsch zugewiesen. Nun sind sie wieder in der ursprünglichen Auflösung und auch in einer Lightbox zu sehen.
Ich hatte davon auch schon mal vor einigen Jahren gelesen, aber jetzt die ganzen Bilder zu sehen, macht mich wieder fassungslos und traurig. „Wie dumm kann man sein“…
Kaum zu glauben, wie dumm der Besitzer der Arcade war, so etwas raus zu posaunen.
Der hätte die Geräte ohne irgendwelche Probleme selber verticken können.
Ich wette, der Laden währe ohne Zerstörung in 3-4 tagen leer und sein Kontostand um zig Tausende höher gewesen.
Der war nicht dumm, der hatte Depressionen.