Ich habe lange überlegt, ob man von der Meldung berichten sollte, dass sich der bekannte Abmahnanwalt Günter Werner Freiherr von Gravenreuth am 22.02.2010 das Leben genommen hat. Letztlich war er aber jemand, der uns seit den Anfängen der heimischen Computerisierung begleitet hatte. Wenn auch im negativen Sinne: GvG gehörte einfach dazu und egal was man über sein Geschäftsgebaren denken mag: Mit ihm starb auch ein Stück der C64- und Amiga-Geschichte.
Im Alter von 61 Jahren erschoss sich der umstrittene Rechtsanwalt in den frühen Morgenstunden in seiner Münchner Wohnung. Zuvor schickte er per Mail „einen letzten Gruß in die Runde“, in welchem er die Tat ankündigte. Die von einem Empfänger informierte Polizei kam zu spät.
Egal was man über „Günni“ denken mag, so war er doch ein Charakter unter den Abmahnern. Man kann sagen, dass er die Abmahnindustrie gründete, die nun so viele Trittbrettfahrer hat, von denen aber keiner jemals die Bekanntheit von „GvG“ erreichen wird. Schon früh stellte er sich der Öffentlichkeit und schien überzeugt von dem, was er tat. Längst haben ihn andere – im negativen Sinne – überflügelt. Von denen stellt sich niemand im TV oder direkt in Foren den Fragen der Öffentlichkeit.
Weitere Informationen über seinen mehr als nur umstrittenen Werdegang findet Ihr hier:
Gravenreuth-FAQ auf Entropia.de (CCC Karlsruhe)
Eintrag in der Wikipedia
Gesammelte Artikel über GvG in zeitgenössischen Fachzeitschriften auf Pokefinder.org
Diskussion in der WDR-Sendung „Highscore“ von 1988: Teil 1 und Teil 2
Anmerkungen:
Es mag auf einer Retrocomputing-Seite seltsam deplatziert, vielleicht sogar politisch und gesellschaftskritisch wirken, trotzdem gehört es meiner Meinung nach zu dieser Meldung. Zu den ganzen Diskussionen, die in den verschiedensten Internetforen geführt werden, will ich nur folgendes sagen:
Pietät:
Pietät hin oder her. Meinungsfreiheit hin oder her, auch wenn sich der Mann nun wahrlich keine Freunde gemacht hat, so sind Freudenbekundungen über sein Ableben völlig fehl am Platz. Kontroverse Ansichten und Äusserungen sind sicher legitim, aber dann doch bitte sachlich und nicht auf untersten Niveau. Man las die üblichen Rohheiten wie „auf das Grab pissen“ in Forenbeiträgen auf Heise.de, bevor sie zu Recht gelöscht wurden.
Kein Grund zur Freude:
Sein Geschäft lief zum Schluss nicht mehr gut. Viele seiner unrühmlichen Kollegen sind besser organisiert als er es war und verfügen über modernere Technik. Diese Rechtsverdreher machen aber unvermindert weiter! Die freuen sich sogar, dass sie einen Konkurrenten weniger haben und streiten sich bereits um seine Kunden. Es ist also für unseren Rechtsstaat und die Bürger nichts gewonnen worden. Günni war zuletzt nur noch ein kleiner Fisch im Karpfenteich.
Gerechtigkeit?
Als Grund für seine Tat nannte er durchweg persönliche Gründe, u.a. den Verlust von sozialen Bindungen nach seiner rechtskräftigen Verurteilung vor einem Jahr, deren Strafe er Ende des Monats antreten sollte. Leicht zu sagen, dass er selber daran Schuld gewesen hat, aber diese Reaktion ist in unserer Gesellschaft nicht unüblich: Viele Menschen mussten feststellen, dass sich „Freunde“ bei einer Krankheit oder dem Verlust des Arbeitsplatzes abwenden. Wer nicht mehr funktioniert, der wird zurückgelassen.
Manche sehen darin eine gerechte Strafe für seine Handlungen, die vielen Menschen Leid brachten. Natürlich arbeitete GvG nach moralischen Ansprüchen nicht sauber. Letztlich wurde er aber nicht wegen seiner „Tanja“-Briefe verurteilt.
Pharisäer:
Einige regen sich über einen Selbstmord mit weltfremden Begründungen auf (Verantwortung, „Sünde“, wegwerfen, etc.), die nur zu deutlich zeigen, dass sie keine Ahnung von dem Themengebiet haben. Vermutlich blöken diese Diskussionsteilnehmer sogar Rollstuhlfahrer an, sie sollten gefälligst aufstehen und sich nicht so anstellen. Psychische Erkrankungen sind vielleicht „unsichtbar“ aber trotzdem vorhanden.
Was die „christliche“ Kirche zu dem Thema beizutragen hat („Erbsünde“), ist ebenfalls nicht hilfreich. Siehe dazu aktuelle (nicht erfolgte) Reaktionen dieser Vereine auf den Kindesmissbrauch in den eigenen Reihen. Sehe ich das zu negativ? Zu realistisch? Ich hatte einen Religionslehrer ab der fünften Klasse, der mir den Glauben an die Kirche durch sein reaktionäres, erzkonservatives Weltbild gründlich ausgetrieben hat. Der Mann war evangelisch! Was geht da erst bei den Katholiken ab?
Wenn man keine Ahnung hat…
Wenn man sich also keine Meinung über Selbstmord bilden kann – aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen – und keine Empathie für die Betroffenen aufbringen mag/kann, dann sollte man einfach mal ruhig sein. Denn gerade solche rohen Sprüche sind für potentiell Betroffene ein Grund das Vorhaben durchzuziehen. Man wird ja sowieso nicht verstanden…
Als legitimen Ausweg sollte es aber auch nicht hingestellt werden, man sollte Lösungen aufzeigen. Betroffene können sich beispielsweise an den Hausarzt wenden. Ein guter Arzt wird im Gespräch erkennen, um was es geht.
(Ver-)Schweigen ist jedenfalls keine Option.