Vor ewigen Jahren las ich etwas über eine Besichtigungstour durch den Weinberg nahe der Kasseler Innenstadt. Als ich mit den Kindern die Oma in Kassel besuchte, erinnerte ich mich daran. Schnell im Netz nachgesehen. Die Führung wird durch die Feuerwehr durchgeführt. Fein, fein. Den Termin haben wir um vier Tage verpasst und der nächste ist wieder in drei Wochen. Na super. Aber so schnell gebe ich nicht auf. Eine kurze Mail geschrieben, ob es eine unplanmäßige Führung gäbe und ob man sich da anschließen könne. Einen Tag später kam die Rückmeldung, dass wir uns am selben Tag um 15:00 Uhr einer Führung tatsächlich anschließen könnten. Gerade die Kleinste war begeistert davon. Auch wenn die Führung erst ab einem Alter von zwölf Jahren empfohlen wird, wollte sie nach dem Studium der Bilder und Videos, die man im Netz finden kann, unbedingt mitkommen.
Der Weinberg
Der Weinbergbunker war ein eilig in den Muschelkalk des Weinberges gehauenes Labyrinth, welches auch die ehemaligen Bierkeller mit einschloss und während der Zerstörung Kassels den Menschen Schutz bot. Im Bunker sollten im Zweiten Weltkrieg regulär 2.500 Personen Platz finden. Es suchten aber tatsächlich 10.000 Menschen dort Zuflucht. Das führte zu einer Zahl von acht Personen auf dem Quadratmeter in den Schutzbereichen! Acht!
Ein weiterer Aufhänger der Führung war eine illegale Technoparty am 03.10.1992, die durch Polizei und Feuerwehr ausgehoben wurde, nachdem sich das naheliegende Krankenhaus über die wummernden Bässe in der Nacht beschwerte. Der Weg zur Party wurde seinerzeit durch Kerzen „beleuchtet“, die an der Elektroinstallation befestigt waren und diese dadurch stark beschädigten. Die Luft war zum Schneiden dick und die Masse der Besucher verirrte sich im Labyrinth der Gänge so hoffnungslos, dass sie froh waren, von der Feuerwehr gefunden zu werden.
Weitere Informationen zum Weinberg findet Ihr im Regiwiki der HNA.
Die Bilder folgen chronologisch der Führung durch den Weinbergbunker und brechen daher mit einem durchgehenden Erzählstrang:
Die typischen Bögen des Weinberges entstanden ab 1902. Die Stadt machte die Befestigung zur Auflage zum Bau der Henschel-Villa. Karl Henschel ließ die Villa nach wenigen Jahren wieder abreißen, weil die Stadt die Grundsteuer so erhöhte, dass er sich das Anwesen nicht mehr leisten konnte.
Der Fels ist gesichert, weil am Weinberg immer mehr Bauten entstanden.
Der Einstieg in den Weinbergbunker
Einer der zehn Eingänge des Weinbergbunkers. Dort, wo heute das Geländer ist, stand eine zwei Meter hohe Splitterschutzwand, hinter der die Veranstalter der Technoparty in Ruhe die Tür knacken konnten und auch die Gäste unauffällig in Grüppchen in den Bunker gelangten.
Im Krieg wurden bei einem Felsrutsch alle(!) zehn Eingänge verschüttet, sodass einige Männer durch die Notausstiege den Weinbergbunker verließen, um Hilfe zu holen.
Die Führung beginnt, die Gruppe, der wir uns anschlossen, sammelt sich.
Herr Schmidt hatte eine fette Bluetooth-Box in seiner Jacke versteckt. Das Ding machte richtig Druck. Damit spielte er Sirenengeheul, Durchsagen mit Bombenwarnungen und auch Techno-Musik ab. Letzteres schien ihm mächtig Spaß zu machen. :-D Wir gingen durch die Gänge zu Technobeats und da merkte man deutlich, dass die illegalen Besucher damals völlig die Orientierung verlieren mussten. Selbst mit der aktuell guten recht Beleuchtung verliert man die Orientierung, weil das Gehört schlicht die Richtung der Mucke nicht orten kann. Sie kommt scheinbar von überall her.
Die Belüftung
Wir sind von den 2,7 Kilometern der Gänge nur ca. 1,4 Kilometer gelaufen. Der Technoraum war ganz rechts oben.
Einer der Lüftungsräume, in dem auch die manuell zu betätigende Belüftung stand. Beim Bombenangriff fiel der Strom aus und die Menschen drohten zu ersticken. Im Weinbergbunker befanden sich nur Kinder, Frauen und alte Männer. Die Arbeit an der Pumpe war extrem anstrengend. Vermutlich starben über 100 Menschen an Sauerstoffmangel.
Ein nachträglich gehauener Querlüftungsschacht zwischen zwei Bunkerräumen. Weil niemand der Luft sagte, dass sie zu dem Schacht nach oben strömen sollte, tat sie dies durch die verwinkelten Gänge auch nicht freiwillig. Erst dieser Schacht erzielte den gewünschten Kamineffekt. Er führte zum Operationssaal, in dem die Verletzungen der Patienten mit Wasser gespült wurden, das aus dem Fels floss. Wundbrand war so vorprogrammiert. Operation, Entzündungen, Amputation, Entzündungen, Tod. Entsprechend roch es dort auch – trotz des Durchzuges.
Dieser Entlüftungsschacht führte am Ende des Operationssaals nach oben zum Berg hinaus. Man kann gerade so darin kriechen. Diese Arbeit wäre nichts für mich gewesen.
Das Lazarett
Das Lazarett vom Professor (habe den Namen vergessen). Es wurde mit Laken abgehangen, damit es lauschiger und wie ein Zelt wirkte.
An der Wand die Spuren der illegalen Technoparty von 1992. Die Organisatoren hatten Kerzen an die damalige Elektroinstallation gehangen – die natürlich gleich mit abfackelte.
Notausstieg nach oben.
Wie man 10.000 alte Männer, Frauen und Kinder eine 35 m hohe Leiter hinaufsteigen lassen sollte, bleibt das Geheimnis der Planer.
Die Schrecken des Krieges
Im Weinbergbunker finden sich viele Infotafeln. Hier zur Edertalsperre, die am 17. Mai 1943 durch eine Rollbombe zerstört wurde. Die Luftlinie knapp 40 Kilometer entfernte Kasseler Karlsaue wurde 2,50 m(!) hoch überflutet.
Das riesige Loch wurde in nur vier Monaten wieder aufgefüllt. Mit unqualifizierten Zwangsarbeitern. Steht noch heute so. Mängelfrei.
Und wir bekommen nicht mal einen Flughafen gebaut und unsere Autobahnbrücken brechen bald zusammen?
Technoparty
Zeitzeugnisse der Technoparty.
Techno-Hinweise. Da diese meist gegenüber der lichtschwachen Kerzen platziert waren, verliefen sich die meisten Besucher und waren froh, als die Polizei und die Feuerwehr sie wieder an die frische Luft beförderten.
Flugblatt der Technoparty.
Die Veranstalter wähnten sich tief im Berg, denn sie waren sehr weit in die Stollen vorgedrungen. Aber der Partyraum befand sich direkt unter dem Park des Krankenhauses. Die Patienten konnten nicht schlafen und riefen die Polizei, welche ewig rumfuhr und die Party zu den dröhnenden Bässen suchte … :-)
Unterbringung im Krieg
Einer der größeren Räume, die links und rechts quer mit Stockbetten im Format 165 × 45 so vollgestellt wurden, sodass zwischen den Betten gerade einmal 45 cm Abstand blieben. Durchgang in der Mitte des Raumes ca. 50 cm.
Auf jedem Bett saßen acht Erwachsene – oft noch mit Kindern auf dem Schoß. Die Toiletten waren zwei einfache Zinkeimer und ziemlich weit weg. Und so ließ man es dann eben laufen …
Erwähnte ich, dass die Lüftungsanlagen nicht funktionierten und mit der Hand betrieben werden mussten? Und wir regen uns teils über den Geruch auch öffentlichen Toiletten auf …
Glück war aber tatsächlich ausgerechnet der Feuersturm, der Kassel am 22. Oktober 1943 vernichtete und 7.000 Menschen tötete, denn die enormen Winde, die in Richtung der brennenden Innenstadt strömten, pressten frische Luft durch die Belüftungen in den Bunkerwänden – und zogen sie auch wieder zu den Abluftschächten oben auf dem Weinbergplateau hinaus.
Der Atombunker
Beispiele für den Atombunker unter dem Kassler Kulturbahnhof (ehem. Hauptbahnhof). Der ist aber ebenso wie der Weinbergbunker nicht in Betrieb.
Verwendung nach dem Krieg
Im Krieg war der Weinbergbunker nur mit einem Lehmboden bedeckt. Der Estrich kam erst später.
Die durchgehend hohe Luftfeuchtigkeit im Bunker sorgte für dezenten Schimmelbefall an diesem Feldbett. Flauschig!
Interessant ist dies vor allem, weil nach dem Krieg der Bunker als Notunterkunft genutzt wurde. Jahrelang lebten hier Menschen mit ihrem Hab und Gut in einer dunklen, feuchten Umgebung voller Ungeziefer, schlechter Luft und Schimmel.
Kopf einziehen!
Nachempfinden
In einem der Bunkerräume legten wir eine Art Gedenkminute ein. Herr Schmidt drehte auf der Bluetooth-Box Geräusche aus einem Bunker auf: fallende Bomben, Explosionen. Wenn wir wollten, könnten wir die Augen schließen, um das Erlebnis zu intensivieren. Das funktioniert tatsächlich, aber lange habe ich das nicht durchgehalten.
Da geht es in die unteren Ebenen.
Kassels Rüstungsindustrie
Wegen der Kriegsindustrie stand Kassel im Fokus der alliierten Bomber.
Der Brauereikeller
Der Weinbergbunker wurde in den 1840er-Jahren als Brauereikeller (Kühlkeller) der vielen Brauereien in Kassel gebaut. Hier sieht man die Streben mit dem Muschelkalk des Berges dazwischen.
So sahen die Keller der Brauereien aus.
Der Eisraum
Dieser Raum erinnert an eine Dom-Kuppel. Durch diese zugemauerte Öffnung wurde im Winter Eis, das auf der Fulda gebrochen wurde, in diesen Raum gefüllt, um im Sommer das Bier inklusive des Kühleises an die Kassler Kneipen zu liefern. Mühsam mussten die Arbeiter über schmale Stiege an der Außenseite des Weinbergs das Eis auf dem Rücken tragen und durch die obige Öffnung (heute zugemauert) werfen. Der ganze Raum wurde gewissermaßen ein großer Eisblock, aus dem das Eis im Sommer nach und nach gesägt wurde.
Die Technobühne
Hier stand die Bühne der Technoparty.
Die Kommandatur Kassels
Der Raum der Kommandantur der Wehrmacht und des Stadtkommandanten (Bürgermeister) im Zweiten Weltkrieg.
In der Öffnung war eine Glasscheibe angebracht, auf welche die taktische Lage Kassels aufgezeichnet wurde.
Ebenfalls einer der Räume/Durchgänge, die während des Krieges mit Stockbetten zugestellt wurden.
Wenn hier das Licht ausgeht. Wird es richtig dunkel.
Die „Aborte“ waren zwei Zinkeimer … Ich darf auch daran zweifeln, dass es für 10.000 Menschen genügend Toilettenpapier gab?
Der Ausstieg
Meine drei Kinder: Von den Eindrücken, der Sonne und der Frischluft komplett geflasht. So erging es auch dem Rest der Besucher – aber wir wurden ja vorgewarnt.
Fazit
Ein intensives Erlebnis, welches man nicht nur an der Geschichte Kassels interessierten Menschen empfehlen kann. Hier wird eindrücklich klargemacht, was Krieg für die Zivilbevölkerung bedeutet.